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Ist Venedig die Königin der Adria oder doch die Capitale Suicidale?

„TREES of MEMORY“ Wenn der Tod das Leben neu erschafft

Ziemlich genau 40 Jahre ist es her, als Mario Dieringer das erste Mal in Venedig war. Mit 15 Jahren ergriff die Faszination Italien von ihm Besitz. Auch seine Abneigung gegen Kokosnuss-Spalten nahm dort ihren Anfang. Ende September 2022 war es nach vielen Jahren wieder soweit und der Berliner erreichte nach 13500 km zu Fuß, die Königin der Adria.

Sein Besuch in der Lagunenstadt gilt jedoch nicht einem nostalgisch touristischen Interesse. Dieringer läuft seit März 2018 um die Welt und pflanzt mit seinem Projekt „TREES of MEMORY“ Bäume der Erinnerung für Suizid-Opfer. Nun lassen sich in Venedig leider keine Bäume pflanzen, trotzdem ist ihm der Besuch wichtig, denn hinter vorgehaltener Hand wird La Serenissima, die Durchlauchte, auch Capitale Suicidale genannt. Einen Spitznamen, den die Venezianer nicht gerne hören, denn Thomas Manns Roman „Tod in Venedig“ hat der Stadt mehr Schaden zugefügt, als alle Hochwasser zusammen, wie hier viele denken. Es gibt sogar einen wissenschaftlich psychologischen Begriff für ein Phänomen, das immer wieder Touristen in die Stadt zieht, um sich dort das Leben zu nehmen.

Das „Venedig Syndrom“

Das „Venedig Syndrom“ untersuchte im Jahr 2000 die heutige Psychologin Diana Stainer, der aufgefallen ist, dass der Suizid unter den Todesfällen von Touristen extrem hoch ist. 51 registrierte Suizid-Fälle von 1988 bis 1995 hat die in Venedig lebende, damalige Studentin der Psychologie für ihre Diplomarbeit untersucht. Zusammengefasst ergab sich, dass fast alle Suizidenten Singles aus dem deutschsprachigen Raum waren, deren Probleme an und mit ihrem Arbeitsplatz zu handfesten mentalen Krisen und Depressionen führten, deren letztes Symptom, der Suizid, in Venedig zugeschlagen hat. Eine geschlechtsspezifische Rolle gab es nicht, denn die Anzahl an Frauen und Männern hielt sich die Waage. Frauen versuchten sich oft mit einer Überdosis an Medikamenten im Hotelzimmer das Leben zu nehmen, während Männer sich häufig in die Tiefe stürzten. Zum Glück konnten 35 der 51 Todessehnsüchtigen gerettet werden.

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Der äußerst dramatische jüngste Suizid ereignete sich Mitte Mai dieses Jahres, mitten in der Stadt, vor den Augen zahlreicher Touristen und Einheimischer. Ein 85-Jähriger ehemaliger venezianischer Kellner erschoss sich hinter einem Schaufenster. Die Gründe hierfür liegen im Dunkeln. Vielleicht ein Alterssuizid, wie er in Italien und Europa zunehmend vorkommt und vor allem die über 70-Jährigen trifft. Aber all das bleibt Spekulation.

Der 55-jährige Dieringer ist jedoch nicht in der Stadt, um zu erforschen, warum ausgerechnet dieser Ort eine Faszination für das Sterben ausstrahlt. Er hat sich auf den Weg um die Welt gemacht, um Menschen mit Depressionen und suizidalen Tendenzen Mut zu machen. Mut, mit dem sie ihr Leben vielleicht doch noch mal umkrempeln können und der sie dazu bewegt, Hilfe auch dann anzunehmen, wenn das gefühlte Morgen schon lange nichts weiter, als Perspektivlosigkeit und Tränen mit sich bringt.

Wie alles begann

Der ehemalige TV-Journalist weiß, wovon er spricht, wenn er sagt, dass auch nach 30 Jahren Depression das Leben nochmals an Fahrt aufnehmen kann. 2012 brach Dieringer plötzlich zusammen und kämpfte zwei Wochen lang mit den allerschlimmsten Suizidgedanken. Die Forderung seines Gehirns, sich das Leben zu nehmen, machten ihm eine solche Angst, dass er sich in die geschlossene Psychiatrie einweisen ließ. „Ich wollte leben, denn ich war doch immer der Sonnenschein und Partykönig. Ich dachte gar nicht daran, mich umzubringen“, erzählt er rückblickend. Schon dieser Schritt kostet mehr Kraft, als so mancher Betroffener zur Verfügung hat, weiß er aus seiner eigenen leidvollen Erfahrung zu berichten.

Es folgten insgesamt sechs Monate stationäre Behandlung, von der Diagnostik bis zur intensiven Therapie. Er lernte die Ursachen seiner schweren Depression kennen und hat gelernt, wie sich seine Psyche in Ausnahmefällen verhält. „Rückblickend sind meine großen depressiven Zusammenbrüche, wie aus einem Lehrbuch und trotzdem hat dies seit meiner Kindheit niemand erkannt und diagnostiziert“, berichtet er. In den darauf folgenden zwei Jahren ging der gebürtige Münchner wöchentlich zur Therapie und kämpfte sich zurück in ein normales Leben. Trotzdem passierte Ende Dezember 2014 das Undenkbare. „Mein Geist hat nach dem Erhalt einer blöden SMS einen Schlussstrich gezogen. Ohne Vorwarnung, ohne einen eigenen freien Willen, der sterben wollte, unternahm er einen Suizidversuch. Er fühlte sich, wie eine Marionette, die vom bösen Etwas in den Tod gespielt wurde.

Kurz nachdem ihn sein Lebenspartner gefunden hatte, setzte das Herz aus und die Ärzte mussten ihn reanimieren. Als er 24 Stunden später auf der Intensivstation aufwachte, war der Schock groß und das Glück überlebt zu haben, kaum mit Worten zu beschreiben. Dann, zwei Jahre später, folgte der nächste Schock. Sein Lebenspartner, der seit seinem 16ten Lebensjahr depressiv mit suizidalen Tendenzen war, nahm sich nach einem Streit das Leben. Dieringers Dasein und jede Zukunftsperspektive zerbrach endgültig in eine Million Stücke. „Es gab nichts mehr, für das es sich lohnte weiterzumachen“, erinnert er sich.

Warum „TREES of MEMORY“?

Sechs Monate dauerte sein erneuter Kampf für das Leben an. Meist war er dem Tod näher, als dem Leben und lediglich die Tatsache, dass er bei seinem Suizidversuch 2014 gerettet wurde, hinderte ihn daran, sich erneut das Leben zu nehmen. „Die Reanimation musste doch einen Sinn gehabt haben“, dachte er sich damals verzweifelt. Doch Kraft, um weiterzumachen, hatte er eigentlich keine mehr.

Das änderte sich, als der Gedanke von TREES of MEMORY, gleich einer heilenden und lebensrettenden Vision auftauchte und die düsterste Zeit seines Lebens, voller Tränen, Schuld und Todessehnsucht mit einem Schlag beendet hat. „Plötzlich hatte ich wieder eine Perspektive, einen Sinn und mir wurde ein neues Leben geschenkt, das mit meiner Vergangenheit als Journalist und Dozent nichts mehr gemeinsam hat“.

Am zweiten Todestag seines Lebenspartners, an Ostern 2018, pflanzte Dieringer in Frankfurt am Main den ersten Baum der Erinnerung und lief los, um Familien nach einem Suizid zu unterstützen. Betroffenen von Depressionen und Suizidalität will er zeigen: „Schaut her, es kann sich alles ändern, wenn Du Dich traust und vertraust“. Mittlerweile wurden in drei Ländern über 50 Bäume gepflanzt und es gibt konkrete Bestellungen für das nächste halbe Jahr aus Deutschland, Slowenien und Ungarn.

Laufen für das Leben und mit einer Vision

Sein Lauf, für den er sein früheres Leben komplett aufgegeben hat, indem er sich auch von allem Hab und Gut trennte, zeigt ihm jeden Tag aufs neue, dass er jederzeit Urvertrauen haben kann. „Seit ich meiner Vision folge, gestaltet sich das Leben genauso, wie ich es brauche, auch wenn es nicht immer meinen Wünschen entspricht“, erzählt er. Er hat gelernt, dass einer Vision zu folgen und einen Traum zu leben, die beste Medizin gegen Depressionen ist. Das sollte eigentlich Kindern schon früh als Prävention beigebracht werden, ist er der Meinung. „Stattdessen treibt unsere Gesellschaft mit ihren Leistungsansprüchen die Menschen zunehmend in die Depression und damit auch in das letzte Symptom diverser mentaler Erkrankungen, den Suizid. Wer sein Leben auf das Sein aufbaut, wird immer ein stabiler und selbstsicherer Mensch sein, dem kaum ein Schicksalsschlag etwas anhaben kann und der seinen eigenen Wert kennt. Wer ein Leben auf der Basis von Haben, Titeln, Besitz und Anerkennung im Außen lebt, kann alles verlieren und damit auch alles, was ihn vermeintlich definiert. Menschen im Sein, haben meist keinen Grund sich das Leben zu nehmen oder werden erst gar nicht krank“.

Dieringer der Vorträge zu den Themen „Suizidprävention“ und „Wege aus der Trauer“ hält, ist meist zwei bis drei Tage in den Familien, die einen Suizid zu beklagen haben. Vornehmlich geht es um das Zuhören, aber auch um die Beantwortung von Fragen, die nur jemand beantworten kann, der die Erfahrung eines eigenen Suizides hat. Er hat, so erzählt er, in den vergangenen fünf Jahren mehr gelernt, als im gesamten Leben davor. Er spricht über Themen, die seine Lebenswelt verändert haben, seine Achtsamkeit gesteigert und geholfen haben, ein Mensch zu werden, der keine Depressionen mehr spürt und mit beiden Beinen fest in einem erfüllten Leben steht. Mario Dieringer berichtet davon, dass die Hoffnung keine Wunsch-Erfüllung-Maschine ist, sondern die Stärke, die in jedem von uns steckt, mit allem zurechtzukommen, was uns das Schicksal vor die Füße wirft.

Sind Italiener glücklicher und gesünder?

Hier in Italien spürt er am eigenen Leib, warum die Italiener eigentlich die glücklicheren Menschen sind. Das zeigen auch die letzten Suizidzahlen Italiens. So steht Italien mit 6,7 Suiziden pro 100 000 Einwohnern auf Position 100 aller Länder, laut Zahlen der WHO von 2019. Im Vergleich dazu steht Deutschland mit 12,3 Suiziden pro 100 000 auf Position 42.

Da er als Halbitaliener selbst Familie in Nardo und Bologna hat, sieht er den Unterschied sehr deutlich. In Italien ist das familiäre, soziale Gefüge noch weitestgehend in Takt. Man verlässt sich aufeinander und drei Generationen an einem Tisch oder in einem Haus tragen Familienmitglieder durch das Leben. Das gemeinsame Essen ist weniger Nahrungsaufnahme, als viel mehr ein zelebrierter psychologischer Akt des Austausches und des Miteinanders. Es ist laut, es wird gelacht, es wird geschimpft, aber es ist ein vertrautes Beisammensein. Es gibt tatsächlich wissenschaftliche Untersuchungen, die eine positive Wirkung von gemeinsamen Essen und dadurch auch die sprachliche und mentale Förderung der kleinsten Familienmitglieder belegen.

Ist Venedig die Königin der Adria oder doch die Capitale Suicidale?

Das mediterrane Essen ist ebenfalls bewiesenermaßen deutlich gesünder, als das in Nordeuropa. Auch wenn der Weinkonsum in Italien groß ist, so wird hier getrunken, um zu genießen und nicht, um sich zu betrinken. In jedem Dorf, jeder Stadt, auch in Venedig finden sich die kleinen Bars, in denen sich die Senioren zum Kartenspielen, treffen und 20 Leute drumherum stehen, zusehen und ihren Spaß haben. Die Gesellschaft kann auch gesund machen, anstatt Einsamkeit und Krankheit zu fördern. „Und dann ist da dieses unglaubliches Blau des Himmels und des Meeres, das beides miteinander verschmilzt und die Sonne direkt ins Herz transportiert und die Seele aufblühen lässt“, schwärmt der Weltwanderer mit einem Leuchten in seinen Augen.

Italiener lieben das Leben und das Leben strahlt positiv zurück, so scheint es. Umso schlimmer, wenn einen hier die Depression trifft und das Problem weggelacht wird. Suizidale Gedanken kann man sich in der italienischen Gesellschaft noch weniger vorstellen als in Deutschland, vor allem bei den unter 50-jährigen. Italienische Männer halten sich meist noch für unsterblicher als ihre europäischen Kollegen und es gibt nur wenige Betroffene, die erkennen, wann sie professionelle Hilfe benötigen. Leider muss man in Italien die Stunden beim Psychologen oft selbst bezahlen und der Gang zu diesem wird verschwiegen. Auch deshalb läuft Dieringer durch das sonnenverwöhnte Land. „In einem Land, in dem man über Depressionen und suizidale Gedanken nicht reden kann, wird man niemals Hilfe erfahren. Das gilt es zu ändern. Es ist auch nicht wichtig, ob ich 10 Millionen Menschen damit erreiche. Wichtig ist der betroffene Einzelne. Deshalb laufe ich mit meinem Wanderwagen und einem großen Schild, das beschreibt, was ich tue, von Nord nach Süd durch dieses Land“, erläutert er.

Tragen Venedigs Gondeln wirklich Trauer?

Auf die Frage, ob Venedig für ihn eine Stadt sei, die eine Todessehnsucht schürt, winkt er ab. „Es gibt viele Städte mit einem solchen Ruf: Jerusalem, Florenz, Los Angeles, New York. Romantische und dramaturgische Ideen im Falle von Suizidgedanken kommen und gehen bei den Leidgeplagten, es gibt keine dunkle Macht an einzelnen Orten, die das schürt.
Für mich tragen die Gondeln in Venedig niemals Trauer, sondern sind immer noch Sinnbild der Lebensfreude, der Ästhetik und vor allem der Liebe. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, irgendwann in einer Gondel zu sitzen und einen Heiratsantrag zu machen oder zu bekommen, sollte sich der richtige Ragazzo eines Tages finden. Bis dahin und darüber hinaus laufe ich weiter für das Leben und den Mut, sich Depressionen und Suizidgedanken dauerhaft zu widersetzen. Vivi la vita. Lebe das Leben, auch wenn du es nicht siehst oder spürst. Es ist trotzdem für dich da, du musst es nur neu entdecken“.

Wer mehr über das Projekt TREES of MEMORY erfahren möchte oder einen Baum der Erinnerung bestellen mag, kann über die Website www.treesofmemory.com direkt mit Mario Dieringer in Kontakt treten. Für Betroffene und Familien, die jemanden verloren haben, steht Dieringer jederzeit für ein persönliches Gespräch zur Verfügung.

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