Die Veränderung der letzten 10 Jahre.
Vor vielen Jahren lernte ich Luigi Frizzo kennen, den Besitzer der Libreria Acqua Alta. Es entwickelte sich eine Freundschaft, heute gehören mein Mann und ich zur Familie.
Die Libreria Acqua Alta bestand damals ca. zwei Jahre, war schon bekannt, aber noch nicht so berühmt. Leute aus der ganzen Welt kamen, um diese einzigartige Buchhandlung zu besuchen.
Noch stand keine Gondel im Laden und natürlich auch nicht davor und die Büchertreppe gab es auch noch nicht.
Was harmlos begann, wird langsam, aber sicher unerträglich.
Im Haus wurde eine Wohnung frei, die ich mietete. Ich genoss die gute Lage, denn ich brauche nur ca. 6 Minuten, um auf den Markusplatz zu gelangen und ungefähr genauso lange zur Rialto-Brücke. Der Laden war immer eine Anlaufstelle für mich. Luigi saß verlässlich hinter der Kasse, sprach alle Besucher persönlich an, meistens in der jeweiligen Landessprache. Abends kamen oft Freunde vorbei, man trank im hinteren Teil des Ladens ein Glas Wein. Auch der Garten, in dem sich heute die Büchertreppe befindet, war noch frei von Touristen. Ich konnte stundenlang dort sitzen, für mein Buch recherchieren, Leute treffen.
Die Kunden, die kamen, kauften auch meistens.
In der Libreria steht nun seit vielen Jahren eine Gondel, was ich natürlich toll fand und finde. Meine Stadtführungen plante ich fast immer so, dass ein Besuch im „Most beautiful bookshop in the world“ ein fester Bestandteil war. So konnte ich eine Gondel erklären, das Ferro und die Ausmaße. Im Laden war immer genügend Platz, kurz stehenzubleiben.
Dann wurde die Büchertreppe gebaut, was auch noch kein Problem war. Ich freute mich über Luigis Erfolg und die vielen Menschen, die durch ihren Kauf zum Erhalt der Libreria beitrugen. Ehrfürchtig standen die Gäste vor dieser einzigartigen Büchertreppe, folgten dem Hinweis „Wonderful view“ und genossen einen kurzen Augenblick die Aussicht auf einen Kanal, den man auch von der naheliegenden Brücke hat. Aber es ist eben anders, wenn man auf einer Büchertreppe steht.
Ein seltener Gast im eigenen Laden: Luigi Frizzo.
Luigi hat sich vor vier Jahren krankheitsbedingt aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen. Den Laden führt jetzt sein Sohn Lino, meistens sind ca. 3- 4 Leute Personal anwesend. Lino stand vor der Wahl, seinen Vater davon zu überzeugen, die Libreria zu schließen oder ihn als Geschäftsführer einzusetzen.
Und heute? Alles hat sich geändert.
Damals war ihm wohl auch noch nicht bewusst, welche Verantwortung er damit übernehmen würde. Natürlich möchte Luigi über sein Lebenswerk auch noch ein Wörtchen mitreden und so gibt es manchmal ein paar Diskussionen, die meistens so enden, dass Luigis Wille durchgesetzt wird und Lino achselzuckend nachgibt. Ich möchte nicht mit ihm tauschen! Lino hat für mehr Ordnung und Sauberkeit gesorgt, soweit das möglich ist. Die Arbeit mit der neu erworbenen Gondel an der Wassertür, der Büchertreppe und den Horden von „Sehleuten“ hat er damit aber trotzdem.
Was hat Instagram, TikTok und Facebook mit der Libreria Acqua Alta zu tun?
Mehr und mehr Instagramer kamen, die nur ein Ziel hatten und haben: Die Büchertreppe zu erreichen und das ultimative Foto zu schießen und sofort zu posten. Was kaum jemand weiß: Unser Küchenfenster ist auf der gleichen Höhe wie die obere Reihe der Bücher. Vermutlich denken viele der Besucher, dass wir ein Teil der Ausstellung sind und die Essensdüfte, die aus unserer Küche kommen, ein Teil des Schauspiels sind. Disneyland eben. Da wohnen Leute? Ach was! Manchmal sehen wir ein Handy, das über die Fensterdekoration gehalten wird, um in unsere Küche zu fotografieren.
Unser „Studio“ befindet sich direkt daneben, unser Schlafzimmer über der Gondel im Kanal. Wir hören also jedes Wort und beobachten mehr oder weniger genervt das Treiben. Junge Damen brauchen sehr lange, um die richtige Position zu finden und nicht immer sind sie mit dem Ergebnis der Fotos einverstanden. Nachdem die Haare gerichtet, die Klamotten zurechtgerückt sind, nehmen sie Stellung. Als Vorlage wird ein Foto einer anderen Instagramerin genommen und natürlich dann erst einmal verglichen. Der jeweilige Fotograf (meistens ein junger Mann) bekommt neue Anweisungen, die Dame erklimmt wieder die Büchertreppe und setzt das typische Instagram-Lächeln auf, das sofort nach dem Klick verschwindet.
Geht es noch um alte Bücher oder um ein »Ich-war-auch-hier-Foto«?
Familien kommen, junge Frauen mit ihren Kindern, ältere Herrschaften, die auch unbedingt den Bücherberg erklimmen müssen. Die Familien unterhalten sich laut von unten nach oben und umgekehrt, die jungen Frauen kommen meistens zu zweit oder zu dritt und haben mehrere Kinder dabei. Natürlich finden die Kleinen es toll, auf der Treppe herumzutoben. So haben die Mütter ein paar Minuten Zeit, sich zu unterhalten oder ihre Whatsapp zu checken. Oft werden auch im Hof Telefonate geführt – natürlich so laut, dass man es in ganz Castello hören kann.
Jeder Einzelne fühlt sich unbeobachtet und im Recht, diese Büchertreppe für sich zu entdecken und zu belagern. Der Stuhl und eine kleine Bank laden dazu ein, sich länger aufzuhalten. Corona? Abstand halten? Maske aufbehalten? Alles egal, wenn es darum geht, endlich auf die berühmt Büchertreppe zu kommen.
Die Libreria Acqua Alta nach der Pandemie
Nach Corona ist es richtig eskaliert. Draußen, vor der Libreria, bildeten sich lange Schlangen. Die Museen hatten noch geschlossen, überall gab es Beschränkungen, aber die Buchhandlung hatte geöffnet und man wollte sie ja sowieso mal ansehen. Mehrmals kam die Polizei und drohte, die Libreria zu schließen, wenn das Personal nicht für Ordnung sorgen würde. Gar nicht so einfach! Wie will man Menschenmengen dazu bringen, die vorgeschriebenen Masken zu tragen und Abstand in einer öffentlichen Gasse zu halten?
So wurde vor dem Laden eine Art Parcour aufgebaut, so wie man ihn von Flughäfen kennt. In Schlangen müssen sich nun die Menschen anstellen und auf Einlass warten. Am Eingang wird die Personenzahl kontrolliert, sowie auf die Maskenpflicht und das Desinfizieren der Hände hingewiesen . Der kleine Campiello vor unserem Haus ist seitdem fast immer überfüllt.
Kaum können wir aus unserem Hausausgang kommen, es stehen überall Leute herum. Auf der Stufe, die in die Gasse führt, sitzen immer junge Leute und sehen gar nicht ein, Platz für die Bewohner zu machen, die mit Einkäufen in ihre Wohnungen gelangen wollen oder, wie ich, beladen mit einem der umhäkelten Stühle versucht, durchzukommen. Noch war ich ruhig, freute mich für die Menschen, die Spaß hatten, dass nach Corona ein halbwegs normales Leben begann. Aber die Freude hielt nicht lange an.
Die Gondel wurde neu festgezurrt und quietscht seitdem bei jedem Besucher, der aus- und einsteigt. Man kann es wohl nicht ändern. Im kleinen Hof vor der Büchertreppe spielen sich unglaubliche Szenen ab. Die Maske wird vom Gesicht gerissen, sobald man den Hof betritt. Zwanzig Leute und mehr drängeln sich vor der Treppe. Einige sehen gar keine Veranlassung, sich zu beeilen und verweilen ewig oben, wenn sie ihr Ziel endlich erreicht haben.
Die Wartenden unterhalten sich laut und hemmungslos, es wird telefoniert, sich etwas von der Gondel zur Büchertreppe zugerufen, usw. Kürzlich saß eine Dame schon etwas länger auf dem einzigen Stuhl im Hof, den ich schon längst dort entfernt hätte, um nicht indirekt eine Einladung auszusprechen, es sich doch gerne gemütlich zu machen. Sie sprach laut, schnell, italienisch. Offensichtlich gab es ein größeres Problem mit jemandem, der sich im Krankenhaus befand, die Dame war ja aber leider in Venedig und im Urlaub. So musste dieses Problem für alle hörbar ausdiskutiert werden.
Wie in Italien üblich, musste auch jeder Satz mindestens zwei, bis dreimal wiederholt werden, je nach Wichtigkeit. Ich saß am Schreibtisch, wollte mich konzentrieren. Unmöglich. Also informierte ich die Dame von oben, dass dies keine Telefonzelle sei. Keine Reaktion. Ich beschloss, meine Rosen vor unserem Fenster zu gießen. Manchmal bin ich dabei etwas ungeschickt und Wasser fällt in den Hof. Vielleicht war ich auch so wütend, dass mein Arm leicht wackelte und einige Tropfen die Dame trafen. Keine Reaktion.
Ein verwunderter Blick nach oben, das war‘s.
Zum Glück wurde ihre Begleitung ungeduldig und sie musste tatsächlich nach ca. 15 Minuten ihr Gespräch beenden. Sie war nicht amüsiert und pöbelte in die Richtung ihres Begleiters und auch nach oben. Aha, sie hatte doch etwas bemerkt! Ganz zufällig musste ich gerade nach unten, um ein Paket abzuholen, das in die Buchhandlung geliefert wurde (ein Grund, weswegen es für mich praktisch ist, im Haus zu wohnen). Die Dame und ihre Begleitung kamen gerade heraus. Ohne Einkäufe aus der Libreria. Dafür hat wohl weder die Zeit, noch der Anstand gereicht.
Das beobachten mein Mann und ich häufig. Manchmal bleiben wir auf dem Campiello stehen und betrachten das Treiben mal von der anderen Seite. Es wird gekauft, aber die meisten Leute schleusen sich durch, nutzen die Büchertreppe und die Gondel, die auch frei betreten werden darf und verlassen den Laden, ohne auch nur eine Kleinigkeit mitzunehmen.
Respekt vor venezianischen Traditionen? Nicht im Geringsten!
Die alte Gondel, für die Luigi sogar noch ein Felze aus einem Museum für 4000 € (!) gekauft hat, wird zur Kirmesbude. Jugendgruppen steigen zu viert, fünft, sechst in die Gondel und finden es total in Ordnung, die Gondel damit zum Schwanken zu bringen, sodass sie ständig gegen die Hauswand stößt.
Gruppen von gestandenen Personen stehen erst länger davor und besprechen lautstark, ob sie so mutig sind, einzusteigen, wer wohl reinfällt und wer die Fotos macht. Besonders Damen, die schon ein gewisses Alter erreicht haben, lachen laut und neckisch und finden sich superlustig. Ich nicht. Ich nenne es „Schwiegermutterverhalten“. Lachen, wenn es nichts zu lachen gibt, finde ich besonders schlimm. An dieser Stelle sei gesagt: Es ist noch niemand aus der Gondel in den Kanal gefallen, so oft ich es mir auch gewünscht habe.
Die Situation vor und in dem Laden entschärft sich lediglich an manchen Wochentagen. Montage mag ich seitdem lieber als früher. An den Wochenenden muss mehr Personal eingesetzt werden, was nicht immer möglich ist. So wird Luigi an manchen Tagen gebeten, im Garten, vor der Büchertreppe für Ordnung zu sorgen. Dem Personal ist es einfach nicht möglich, ständig herauszulaufen, um die Besucher zu bitten, sich nur kurz aufzuhalten, Platz für die Wartenden zu machen und ihre Masken nicht abzunehmen. Natürlich machen sie es trotzdem, wenn sie oben auf der Treppe sind, denn wer will schon dieses einzigartige Foto mit einer Maske haben.
Ich liebe es, von oben Luigis Stimme zu hören!
Luigi ist nach wie vor eine Institution, eine Respektsperson. Ob die Leute wissen, wer er ist, wage ich oft zu bezweifeln. Vorbei ist die Zeit, als täglich Leute kamen, um sich mit ihm zu unterhalten und ein Erinnerungsfoto zu schießen.
Mit den jungen Leuten, die nur kommen, um bei Instagram mitspielen zu können, kann Luigi nichts mehr anfangen. Luigi hat ein altes Telefon, mit dem man telefoniert. Mehr nicht. Er lebt gut damit, kann aber die Entwicklung in seinem Geschäft nur noch teilweise verstehen. Dass der Laden berühmt ist, war schön. Dass er jetzt so überrannt wird, ist nicht mehr schön und aus meiner Sicht kontraproduktiv. Mit meinen Kunden betrete ich den Laden nur noch, wenn es einigermaßen leer ist. Meine Kunden kaufen immer etwas. Und wenn es nur ein Kalender, Postkarten oder auch „Teddy in Venedig“ ist. Wir müssen uns bei Instagram zum Glück nicht mehr beweisen.
Ja, Moment, ich sehe die Frage!
„Warum ziehst du nicht weg?“
Dafür gibt es mehrere Gründe. Luigi ist ein so guter Freund, dass ich ihn nicht missen möchte. Mein Mann inzwischen auch nicht, die beiden sind seelenverwandt. Der Sohn ist immer nur zwei Wochen im Monat in Venedig, die andere Zeit verbringt er in seiner Heimat, im Aostatal. Dann kümmern wir uns mehr um Luigi, ich koche oft, wir essen abends zusammen.
Eine schöne Wohnung in Venedig zu finden, ist wie ein Lottogewinn. Bislang habe ich immer den Haken gefunden, wenn uns etwas in der Nähe angeboten wurde. Man mietet überwiegend möbliert in Venedig. Und nein, es sind nicht unbedingt Antiquitäten, die man dann in den eigenen Räumen hat und nicht entfernen darf.
Airbnb und Ferienwohnungen in Venedig sind Wohnraum-Vernichter
Ich suche seit Jahren eine große, schöne, karg oder gar nicht möblierte Wohnung, die unbedingt in der Nähe von Luigi sein soll und über einen Balkon oder eine Terrasse verfügt. Die Zeiten dafür sind nicht schlecht, fangen aber erst an. Mehr und mehr Airbnb-Vermieter haben Angst, aufzufliegen und vermieten an Venezianer, statt an Touristen. Airbnb ist Wohnraumvernichtung und soll nun mehr überprüft und verboten werden. Darauf hoffe ich und ertrage das Chaos noch eine Weile.
Womit wir beim nächsten Knackpunkt dieser Wohnung sind. Über Eck befindet sich eine wunderschöne Wohnung mit Balkon. Sie ist auf der gleichen Höhe wie wir und die Büchertreppe. Jahrelang war dort Ruhe, bis sie wohl so günstig angeboten wurde, dass sich die Feriengäste dort die Klinke in die Hand geben.
Mal haben wir Glück und die Gäste sind leise. Mal haben wir Pech und es wird bis in die Nacht auf der Terrasse gefeiert. Da hilft es auch nichts, ihnen deutlich zu machen, dass es auch in Venedig und auch für sie eine Nachtruhe gibt. Wenn der Alkohol erst einmal fließt, ist Rücksichtnahme nicht mehr angesagt. Für die Libreria Acqua Alta wünsche ich mir, dass wieder mehr Ruhe einkehrt und der Hype ein Ende findet. Es gilt das Gleiche wie für den Massentourismus: Zuviel ist schlecht! In Maßen ist alles wieder gut. Venedig ist kein Disneyland und auch die Libreria sollte sich davon abwenden, zur Not mit Eintrittsgeld.