Jetzt ist es amtlich. Die Einwohnerzahl Venedigs hat die magische Grenze erreicht.
Die von Venessia.com eröffnete Diskussion und denjenigen, die trotz schwieriger Zeiten denken und handeln, erhielten nun die Bestätigung. Mit der Sorge, mit der man manchmal die Flut steigen sieht, sieht man in Venedig die Zahl der Einwohner sinken. Zwischen diesen beiden Polen spielt sich das Schicksal der Stadt ab. Das Mose Flutschutzsystem wird nicht ausreichen, denn es wird viel mehr nötig sein, weil Hochwasser jetzt ein globales Problem ist. Auch wenn es durch lokale Eingriffe in das Ökosystem der Lagune vorweggenommen und verschärft wurde. Palliative oder demagogische Maßnahmen werden hingegen nicht ausreichen, um eine angemessene soziale und demografische Dimension wiederherzustellen. Es ist kein Zufall, dass das Sondergesetz, mit dem sich der Staat zum Schutz Venedigs verpflichtet, beide Aspekte betrifft: die physische Erhaltung und die sozioökonomische und demografische Erneuerung.
Es ist an der Zeit, sich zu outen: Ja, wie viele vermutet haben, waren wir es, die in den letzten Wochen in verschiedenen Teilen der Stadt Flugblätter mit der Nummer 49.999 aufgehängt haben.
Die 49.999 ist eine symbolische Zahl, mit der wir der Welt unsere Besorgnis über den bevorstehenden Abstieg unter die „psychologische“ (aber auch logistische) Grenze von 50.000 Einwohnern vermitteln.
Unterhalb von 50.000 kann man sich nicht mehr als „Stadt“ im eigentlichen Sinne bezeichnen, Venedig wird – und das nicht erst seit heute – zu etwas anderem. Einige sprechen von einem Freizeitpark oder Disneyland, andere nennen es Freilichtmuseum. Das alles hat nichts hat mehr mit der Idee einer Zivilgesellschaft zu tun.
Jetzt haben wir eine große Geschichte, die uns niemand mehr nehmen kann, aber die immer kleiner werdende Einwohnerzahl entspricht eher der einer Kleinstadt.
Wir wenden uns an die Welt und laden alle venezianischen Bürger und Bürgervereinigungen ein, sich an dieser Demonstration des Protests und der Sorge um die Zukunft zu beteiligen, indem sie das Banner mit der Zahl „49.999“ an ihrem Fenster aufhängen.
Wer keine Zeit und Gelegenheit hat, einen zu machen, kann ihn über unsere sozialen Kanäle bei uns anfordern, wir verschenken ihn dann.
Wir haben auch T-Shirts, für die wir um einen kleinen Beitrag bitten.
Auf venessia.com können Sie sich über alle Aktionen informieren.
Als wir im Jahr 2009 unter 60.000 lagen, haben wir das ‚Begräbnis von Venedig‘ veranstaltet, ein Ereignis, das weltweit ein großes Medienecho fand.
Heute, an der Schwelle von 50.000, glauben wir, dass es die Pflicht eines jeden Venezianers ist, die nationale und internationale Öffentlichkeit auf das Drama einer aussterbenden Bürgerschaft aufmerksam zu machen.
Venessia.com, Juli 2022
Ein Kommentar zu diesem Thema von Petra Reski
Petra Reski ist Journalistin und Schriftstellerin. Sie lebt seit 1991 in Venedig. Über das Leben in der Lagunenstadt hat die Wahlvenezianerin ein ausführliches Buch geschrieben. Erhältlich bei Amazon: „Als ich einmal in den Canal Grande fiel“
Für die Zeitungen ist jede Nachricht über Venedig Gold wert – was allerdings nicht bedeutet, dass sie sich ernsthaft bemühen, über die venezianische Realität zu berichten. Was auch die Tatsache beweist, dass Sky 24 die Entvölkerung Venedigs mit einem Foto von Triest bebilderte. Im laufenden Wahlkampf ist die Unterschreitung der 50.000-Einwohner-Grenze nicht mehr als eine bunte Meldung im Vermischten. Der Punkt ist, dass sich niemand ernsthaft für den Zustand von Venedig interessiert, wenn er nicht auch einen Nutzen daraus ziehen kann.
Tatsache ist, dass der Niedergang Venedigs mit der Zwangsehe mit dem Festland begann, einem Überbleibsel des Faschismus: Die Idee dieses Groß-Venedigs stammte von einer Gruppe geschäftstüchtiger Industriebarone, die zu Mussolinis Zeiten Venedig mit der Industriestadt Marghera und der Arbeiterstadt Mestre zwangsvereinigten.
Zu Mussolinis Zeiten lebten nur vierzigtausend Menschen auf dem Festland; Venedig hingegen zählte mit zweihunderttausend Einwohnern fast fünfmal so viele. Heute hat sich das Verhältnis deutlich umgekehrt: In Venedig leben heute weniger als fünfzigtausend Menschen, in Mestre dagegen hundertachtzigtausend. Die Zwangsehe hat dem Festland allerdings auch nicht gut getan: Mit seinen trostlosen, siloartigen Hotels sieht Mestre aus wie ein sowjetischer Vorort, der versehentlich hierher verfrachtet wurde. Obwohl Mestre die drittgrößte Stadt der Region Venetien ist, hat sie keine urbane Identität und kann sich nur damit rühmen, die italienische Stadt mit der höchsten Anzahl an Einkaufszentren und Drogentoten zu sein.
Dennoch verteidigen alle Bürgermeister das bizarre Projekt des mit dem Festlang „vereinigten“ Venedigs wie das Dogma der Jungfräulichkeit Marias. Nicht nur, weil die Mehrheit der Wähler auf dem Festland lebt, sondern auch, weil ohne die Zwangsehe mit Venedig alle Mittel des Sondergesetzes, die so nützlich sind, um die Stadt vom Festland aus zu regieren, ebenfalls versiegen würden: Mittel, die für den Schutz Venedigs bestimmt sind, aber in den Bürgersteigen von Mestre landen.
Das Problem von Venedig ist ein grundlegend politisches. Und noch immer hat niemand – abgesehen vom Stadtrat der Grünen Gianfranco Bettin, auf die größte und unmittelbarste Gefahr hingewiesen: die, vom Wasser verschluckt zu werden. Nicht in 100 Jahren, sondern in 30 Jahren.
Und deshalb müssen wir den Kampfgeist so vieler Venezianerinnen und Venezianer unterstützen, von Bürgervereinigungen wie denjenigen, die sich für die Autonomie Venedigs einsetzen, Movimento Venezia Autonoma, wie Gruppo25aprile Venezia, wie Italia Nostra – Venezia, Gruppo WSM Viva San Marco Venexia, Venessia.com , wie OCIO – Osservatorio CIvicO indipendente sulla casa e sulla residenzialità, und viele anderen.
Wir kapitulieren nicht, wir Widerständler wollen mit der Fahne in der Hand sterben, wie die Partisanen.